26. Juni 2020 - Es soll sich um den größten Finanzskandal der letzten 50 Jahre handeln: Die Wirecard AG steht wegen Milliarden schwerer Bilanzfälschung am Pranger. Am Donnerstag hatte der Finanz-Dienstleister wegen Überschuldung und drohender Zahlungsunfähigkeit einen Insolvenzantrag eingereicht. Vorstand Jan Marsalek ist abgetaucht.
Erst die drohende Pleite, dann der sich erhärtende Vorwurf der Bilanzfälschung, schließlich der Antrag auf Insolvenz – und nun wollen die Kreditkartenanbieter Visa und Mastercard ihre Geschäftsbeziehungen zu dem Skandal-Unternehmen Wirecard (www.wirecard.com/de/) „überdenken“.
Wie die ARD Börse (https://boerse.ard.de) öffentlich machte, rutschte die Wirecard-Aktie ins bodenlose – „tiefer kann es nun auch nicht mehr gehen“. Demnach notieren die Wirecard-Titel mit einem Abschlag von mehr als 30 Prozent aktuell etwa bei 2,30 Euro.
Die Flut an schlechten Nachrichten reißt erwartungsgemäß nicht ab. Visa und Mastercard erwägen, Wirecard die Möglichkeit zu entziehen, Zahlungen über ihre Netzwerke zu leiten, wie die Nachrichtenagentur Bloomberg unter Berufung auf mit der Sache vertraute Personen schrieb. Einige Wirecard-Kunden seien bereits kontaktiert worden, um sie auf diese Möglichkeit vorzubereiten.
Überschuldung und drohende Zahlungsunfähigkeit
Die Wirecard AG mit Sitz im oberbayerischen Aschheim hatte am Donnerstag wegen Überschuldung und drohender Zahlungsunfähigkeit Insolvenzantrag eingereicht. Bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY Deutschland (www.ey.com/de_de), die den Jahresabschluss 2019 prüfte, spricht man im Fall Wirecard „von schwerer Kriminalität in quasi weltumspannendem Maßstab aus“. Es gebe deutliche Hinweise, dass es sich um einen umfassenden Betrug handelt, an dem mehrere Parteien rund um die Welt und in verschiedenen Institutionen mit gezielter Täuschungsabsicht beteiligt waren.
In der ARD Börse heißt es dazu, dass EY ist selbst in das Visier der Kritik gerate, da sich viele Beobachter die Frage stellten, warum die Fachleute der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft die Manipulationen nicht früher entdeckt haben.
Wo ist Wirecard-Vorstand Jan Marsalek?
Und dann noch das: Der frühere Wirecard-Vorstand Jan Marsalek ist untergetaucht. Er gilt als Schlüsselfigur im Wirecard-Milliardenskandal. Marsalek hält sich möglicherweise in China auf, mutmaßen die Medien. Nach den Daten der philippinischen Einwanderungsbehörde soll er am Dienstag in das südostasiatische Land eingereist sein, um am Mittwoch über den Flughafen Cebu weiter nach China zu fliegen. Dazu heißt es in Medienberichten, dass die Videoaufzeichnungen des Flughafens nicht deutlich aufzeigen, dass Marsalek das Land verlassen habe.
Der Manager Marsalek war den Angaben zufolge im Wirecard-Vorstand für das operative Tagesgeschäft zuständig und wurde am vergangenen Montag fristlos entlassen. Die Staatsanwaltschaft München ermittelt bereits seit Wochen gegen ihn sowie den Ex-Vorstands-Chef Markus Braun und zwei weitere noch amtierende Vorstände – „wegen des Verdachts der Falschinformation von Anlegern“.
Es scheint sich um eine Never-Ending-Skandalstory zu handeln, denn wegen des Insolvenzantrags werden die Wirecard-Aktien in der kommenden Woche aus dem Stoxx Europe 600 entfernt. Ab Dienstag, 30. Juni, werden sie nicht mehr im Index der 600 größten börsennotierten europäischen Unternehmen zu finden sein, teilte die Index-Tochter Stoxx Ltd. (www.stoxx.com) der Deutschen Börse mit. Dazu heißt es, dass Index-Änderungen vor allem für Fonds wichtig sind, um die Indizes exakt nachbilden. Dort müsse dann entsprechend umgestellt werden, was Einfluss auf die Aktienkurse haben könne.
Ein Experte dazu: „Eine unmittelbare Herausnahme aus dem Dax ist offenbar nicht geplant. Es ist das erste Mal, dass ein insolventes Unternehmen in der ersten deutschen ‚Börsenliga‘ enthalten ist.“
Ad-Hoc-Meldung kam erst am Donnerstagvormittag
Schließlich wird auch auf eine längst früher fällig gewordene Ad-Hoc-Meldung verwiesen. Das habe der Noch-Dax-Konzern per Pflichtmitteilung am Donnerstag um 10:28 Uhr mitgeteilt. Die Aktie wurde für 60 Minuten vom Handel ausgesetzt. Danach folgte der unausweichliche weitere Absturz.
Beim Wirtschaftsprüfer EY spricht man von einem „umfassenden Betrug“. Es werde geprüft, ob auch Insolvenzanträge für Tochtergesellschaften der Wirecard-Gruppe gestellt werden müssen." Weiter wird berichtet, dass die Gläubigerbanken das Recht hatten, Kredite über 2 Milliarden Euro zu kündigen, wenn das Unternehmen nicht bis zum vergangenen Freitag eine testierte Bilanz für das vergangene Jahr vorlegen könne. Die Wirtschaftsprüfer von EY hatten das Testat verweigert, als sich herausstellte, dass Bestätigungen über Treuhandkonten offensichtlich gefälscht waren.
Wie aus einem Anleiheprospekt hervorgeht, gehören zu Wirecards führenden Kreditgebern die Commerzbank, die LBBW, die niederländische ABN Amro und die Deutschland-Tochter der niederländischen ING.
Anja Kohl von der ARD Börse sagte zuletzt, dass die Tage von Wirecard im Dax mit dem Insolvenzantrag endgültig gezählt seien. Ob der Zahlungsabwickler nun rasch den Leitindex verlassen muss, ist allerdings angesichts eines fehlenden Präzedenzfalles unklar. Nur im Falle einer Abwicklung oder falls der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse abgewiesen wird, muss ein Unternehmen laut den Regeln der Deutschen Börse aus einem Auswahlindex „umgehend" herausgenommen werden.
Erst Anfang der Woche hatte die Wirecard AG einräumen müssen, dass sie massive Bilanzprobleme hat. Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro würden „mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehen", hieß es aus der Zentrale der Gesellschaft.
Aufsichtsbehörden in der Kritik
Nach dem Bekanntwerden der bilanziellen Ungereimtheiten bei Wirecard melden sich Politiker und Branchenexperten zu Wort und fordern jetzt Reformen der Aufsichtsbehörden. Und – so heißt es - die Oppositionsparteien in Berlin wollen die BaFin-Spitze persönlich zur Verantwortung ziehen. Zunächst aber gingen wurden Vorwürfe gegenüber der Europäischen Zentralbank (EZB) laut. Es könne nicht angehen, dass bei einem Finanzkonzern dieser Größe sich niemand zuständig fühle. Der Grünen-Politiker Gerhard Schick fordert gar, Zahlungsdienstleister einer bestimmten Größe wie Wirecard sollten durch eine europäische Behörde überwacht werden. Aus der Finanzkrise von 2008 habe man schließlich die richtige Konsequenz gezogen und Großbanken der EZB unterstellt. Gleiches sollte für Zahlungsdienstleister gelten.
Parlamentarier fordern Aufklärung
Inzwischen melden sich auch andere Politiker. Einer Meldung des Nachrichtendienstes Bloomberg zufolge fordern nicht nur die Bundesregierung sondern auch andere Parlamentarier Aufklärung über die Wirecard-Vorgänge. Die Opposition bringt demnach sogar personelle Konsequenzen bei der Aufsicht BaFin ins Gespräch. Der Bloomberg-Meldung zufolge wird der Linken-Abgeordneten Fabio de Masi zitiert: „Wenn der größte Börsencrash eines Unternehmens in der deutschen Geschichte unter den Augen der BaFin stattfinden kann, dann muss an der Spitze aufgeräumt werden.” (-el / www.bocquel-news.de)
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