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Konzepte und Kriterien

Solidaritätsprinzip in der Assekuranz auf der Kippe?

16. April 2018 - Die personalisierte Tarifierung und deren Auswirkungen auf Prämiengestaltung und das Versichertenkollektiv bildete einen der Themenschwerpunkte der Wissenschaftstagung des Bundes der Versicherten (BdV) in Berlin mit mehr als 120 Teilnehmer*innen aus Politik, Versicherungswirtschaft und Verbraucherschutz.

„Hat das Solidaritätsprinzip in der Versicherung ausgedient?“ Direkt in medias res ging der Versicherungsombudsmann Prof. Dr. Günter Hirsch, der sich mit dieser Frage ans Plenum der Wissenschaftstagung des Bundes der Versicherten (www.bundderversicherten.de) vergangene Woche in Berlin wandte. Es stelle sich für ihn die Frage, ob die Tendenz auf dem Versicherungsmarkt hin zu maßgeschneiderten Tarifen so weit gehen werde, dass für die schlechten Risiken nur noch die höheren Tarife „von der Stange“ bleiben, gab Hirsch zu bedenken. Noch sind Telematik-Tarife in rechtlicher und versicherungsethischer Hinsicht seiner Ansicht nach lediglich eine Fortentwicklung der gängigen Prämienkalkulation.

„Allerdings ist bei den Versicherern Problembewusstsein gefragt und Wachsamkeit bei uns allen“, so der Versicherungsombudsmann. Versicherer, die Telematik-Tarife in der Autoversicherung verwenden, sollten erklären, wie sie die Daten bewerten. Wenn die Versicherer nämlich zu schnelles Beschleunigen des Autos und/oder scharfes Abbremsen nicht als gutes Reaktionsvermögen des Fahrers werten, sondern als unvorsichtige Fahrweise werten, hält das der Ombudsmann für bedenklich. Dass dies aber ein Einschreiten des Gesetzgebers erfordere, sieht Hirsch noch nicht gegeben.

Sicherlich würden datenbasierte Versicherungen auf den ersten Blick für mehr Beitragsgerechtigkeit sprechen, doch andererseits könnte das auch die Solidarität innerhalb des Versicherungskollektivs bedrohen. „Letztlich geht es um die gegenläufigen Werte von Solidarität und Gerechtigkeit“, sagte der ehemalige Präsident des Bundesgerichtshofs, Prof. Dr. Günter Hirsch, während der Wissenschaftstagung des BdV. Weil nämlich sogenannte verhaltensbasierte Versicherer weniger risikofreudige Autofahrer bevorzugen, resultiert daraus auf der anderen Seite ein höheres Durchschnittsrisiko im restlichen Versicherten-Kollektiv, das dann folglich im Durchschnitt einen höheren Beitrag bezahlen müsste.

Der Ombudsmann relativierte jedoch, dass die individuelle Risikobetrachtung von Kunden bei Telematik-Verträgen nichts vollkommen Neues gegenüber den einzelnen Kriterien klassischer Kfz-Versicherungsverträge sei. Aber bei anderen Assekuranzen verwies er beispielsweise auf die Vorerkrankungen in der Berufsunfähigkeitsversicherung, die berücksichtigt werden - oder auf die Elementarversicherung in Hochwassergebieten, die ebenfalls besonderer Berücksichtigung bedürfe. „Die Risikolandschaft ist schon heute segmentiert“, sagte der Ombudsmann. Man müsse jetzt abwarten, wohin das Pendel in Sachen technische Entwicklung ausschlage - und wie sich die Angebote in der Versicherungswirtschaft entwickeln werden.

Kornelia Hagen, Seniorwissenschaftlerin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW), die auch Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des BdV ist, gab als Moderatorin der Veranstaltung den Staffelstab an den nächsten Redner, Constantin Papaspyratos, Leiter der Stabstelle Rechts- und Fachberatung des BdV, weiter. Sein Thema: „Risikoentmischung und Paralleltarife: Praxisrelevante Ausprägungen bei personalisierten Versicherungstarifen“. Er stellte anhand einiger Beispiele die teilweise kaum nachzuvollziehenden Risikoklassifizierungen und Prämienspreizungen innerhalb einzelner Berufsgruppen in der Berufsunfähigkeits-Versicherung vor.

Prof. Dr. Horst Müller-Peters von der Fakultät für Wirtschafts- und Rechtswissenschaften am Institut für Versicherungswesen Köln ging anschließend der Fragestellung nach, ob und unter welchen Bedingungen personalisierte Versicherungstarife als gerecht oder ungerecht wahrgenommen und bewertet werden.

Dabei stellte er die Ergebnisse einer repräsentativ gewichteten Umfrage zur Akzeptanz telematikbasierter Versicherungen vor. Derzeit sei etwa jeder zweite bis dritte Bürger durch telematische Tarife ansprechbar. Bedingungen der Akzeptanz sind seiner Ansicht nach Nachvollziehbarkeit, Beeinflussbarkeit, Preisvorteil und Datenschutz.

Nach Ansicht von Prof. Dr. Karl Michael Ortmann, Beuth Hochschule für Technik Berlin, beinhaltet jedes mathematisch-statistische Prognosemodell in der Assekuranz zahlreiche Ermessensentscheidungen zur Festsetzung von Parameterwerten. In seinem Vortrag zum Thema

„Aktualisierte Aspekte der Produktentwicklung“ ließ er anklingen, dass es zahlreiche Fehlerquellen in der Modellierung gebe.

„Nicht selten wird so lange herumgebastelt, bis das gewünschte Ergebnis herauskommt“, sagte der Mathematiker und Aktuar Ortmann. Aktuarwissenschaft sei in diesem Sinne mehr Kunst als Wissenschaft.

Es kamen außerdem Prof. Dr. Christoph Brömmelmeyer vom Lehrstuhl für bürgerliches Recht und europäisches Wirtschaftsrecht an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) sowie Prof. Dr. Ingrid Schneider von der Universität Hamburg, Fachbereich Informatik, zu Wort. Brömmelmeyer referierte über die rechtlichen Grenzen personalisierter Tarife. „Wir stehen noch am Anfang der personalisierten Tarifierung und es wird noch einiges zu klären geben“, sagte er. Der Vortrag von Prof. Dr. Ingrid Schneider beleuchtete einmal mehr „Big Data und stratifizierte Daten: Individualisierung als Entsolidarisierung?“. Hierbei sprach die Professorin unter anderem an, wie Big Data, Smartwatches und Wearables das Machtgefüge im Versicherungs-Kunden-Verhältnis verändern werden. Darüber hinaus zeigte sie Lücken bei der Datensicherheit und Möglichkeiten zur Manipulation bei der Nutzung solcher Geräte auf. (-el / www.bocquel-news.de)

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